Alle die Gespräche zwingen mich zu allerhöchstem Respekt für dieses aufopferungsvolle Leben. Die Devise: Alles für die Familie, wird voll bestätigt. In den vielen Gesprächen mit Schilderungen aus der DDR konnte ich bei meinen Zuhörern sehr oft deren Bedauern über die Westdeutsche Annexion vernehmen. Viele meiner Gesprächspartner hätten zu gern in der DDR gelebt. Einige waren bei uns. Sie berichten genau das, was ihnen Westschreiberlinge täglich ins Gehirn amputieren. Persönliche Erfahrungen haben sie höchstens als Touristen, Fahrer oder Montagearbeiter. Dabei hätte ich zu gern verglichen, welchen Lohn ein DDR Montagearbeiter im Gegensatz zu ihnen bekam. Sie hätten nicht schlecht geschaut. Den DDR Verantwortlichen aus dem Volk war die Trennung von Heimat und Familie, Einiges wert.
Im Westen bekommen sie das Geld sogar noch geklaut. Italien und Österreich haben wenigstens für Kost und Logis nichts kassiert. Und dafür sind wir unseren neuen Landsleuten sehr dankbar. Die Trennung von der Familie ist und bleibt trotzdem unvergütet. Leider. Genau das macht unsere Lebenswege vergleichbar. Die Südtiroler Senioren verstehen das wegen ihrer Erfahrungen. Wir sind aber vierzig bis fünfzig Jahre weiter. Genau in dem Fall, können wir nicht von Entwicklung sprechen. Ich sehe das als dramatische Rückentwicklung.
Bei allen Gesprächen interessiert mich als Koch natürlich, was meine Gäste gern essen und was sie früher gern aßen. Die Berichte sind teilweise erschütternd. Ein Volk stellt die besten Lebensmittel her und kann sich die selbst nicht leisten. Traurig. Selbst im Altersheim wird billigster deutscher Käse verköstigt, der alles Andere ist als Käse. Man scheut sich auch nicht, das Produkt mit Namen wie Edamer, Feta oder Tilsiter zu beschmutzen.
Zum Kaffee, hierzulande Jause, habe ich einen gedeckten Apfelkuchen gebacken. Keinen Strudel.
Das Abendessen war leicht vorzubereiten. Neben diversen Aufschnitten, habe ich ein Pastagericht vorbereitet. Auf die direkte Nachfrage, wollten meine Seniorenkunden morgen ein paar gute Knödel. Speckknödel. Ich habe ihnen das für morgen versprochen.
Nach der Küchenreinigung und der Abendvorbereitung, ruft die Chefin mich ins Büro. Es waren etwa zehn Belehrungen und die damit verbundenen Unterschriften fällig. Man versucht vom Bürostuhl aus, die Verantwortung auf Arbeiter abzuwälzen. Schließlich entstehen Fehler nur bei der Arbeit. Die Belehrungen haben in etwa Romanumfang. Kein Mensch kann diesen Kram an einem Tag, geschweige, in einer Woche lesen. Die reichen diese Formulare mit einem Lächeln aus und stellen sich mit einem Kugelschreiber dahinter. Auf drei Zeilen frage ich, was damit gemeint ist. „Das steht da immer“, ist die Antwort. Eine gescheite Antwort angeblich Studierter. So funktioniert Unterdrückung. Nicht anders. Der Benutzer des Schleudersitzes teilt seinen Sitzplatz mit dem Kollegen. Und das nennen die Freiheit. Ich muss laut lachen; auch wegen der Unterschriften.
„Ich unterschreibe das nicht. Ich bin hier zur Aushilfe, weil Ihr mich braucht. Ich lese das nirgends. Was Ihr wollt, bedarf allein einer zweijährigen speziellen Ausbildung.“
„Okay. Bis Morgen. Ich kläre das. Übermorgen kommt die Kollegin wieder.“
Die berühmte Drei-Tages-Krankheit. Oder soll ich Auszeit sagen?
Gut. Der Weg aus dem Ulten ist um diese Zeit umständlich. Ein Bus und ich fahre in Schrittgeschwindigkeit nach Hause. Für Übermorgen kann ich mir dann schon mal eine andere Tätigkeit suchen. Ich bin mir aber sicher, die lässt sich jetzt finden. Ostern ist in diesem Jahr sehr zeitig. Das wird für reichlich Wechsel sorgen nach den Feiertagen. Bei halbvollen Hotels braucht es eben auch nur eine Notbelegschaft. Und da gewinnt die billigste.
Joana wird in diesem Monat bei Alfred fertig. Das gibt eine kleine Abschiedsfeier. Die Kolleginnen wollen mitfeiern. Joana muss in ihrem Sommerhotel die Vorreinigung erledigen. Dazu zählen die Personalunterkünfte und die Grundreinigung des Hotels. Das dauert normal, etwa vierzehn Tage zu dritt. Für den Endspurt kommen dann die restlichen Saisonkräfte. Joana ist sozusagen, ein Vorarbeiter.
In Lana ist schon Stau. Meist vor einem Einkaufszentrum. Ich verliere bis Meran gut eine halbe Stunde. Die Fahrt in Richtung Reschen wird nur von Lastverkehr und geringem Berufsverkehr verlangsamt. Unsere Bauern fangen schon an, ihre Plantage zu bearbeiten. Das sind Vorbereitungen für Neupflanzungen.
Eigentlich wollte ich noch mal in Prad bei Luise vorbeischauen. Aber die Zeit wird zu knapp. Ich trödele mit dem Schwerverkehr in Richtung Reschen.
Gegen Fünf bin ich da. Dursun ist schon in der Küche bei Marco. Alfred auch. Man probiert das Menü.
„Wie wars?“, fragt Alfred.
„Beschissen, wie immer.“
Alle lachen. Sie wissen, was ich meine. Beschissen ist der Normalzustand. Ginge es besser, müsste ich die Arbeit nicht tun. Ginge es schlechter, wäre ich nicht da.
„Ich habe Joana ein feines sächsisches Essen mit gegeben. Sie hat mir mit geholfen.“
„Na dann. Gute Nacht. Danke mei Gutster.“
„Ich hab Joana ein Festbier mit gegeben“, sagt Alfred.
Ich frage mich, welches Fest. Ich bin zu müde, das jetzt zu erkunden.
„Danke.“
Joana hat Roulade auf dem Zimmer. Sächsisch. Mit Zwiebel und Speck. Ich kann‘s nicht glauben. Marco kocht mir ein sächsisches Essen. Und das so gut. Ich muss gleich an meine Mutter denken.