Die Grenzöffnung
Unser Stammtisch ist leer. Zwei alte Bergmänner sitzen bei uns und wir reden von der offenen Grenze.
„Das bringt nichts Gutes!“, säufst Kurt. „Ich muss da nicht hin. Die haben Angehörige meiner Familie jahrelang eingesperrt, weil sie Kommunisten waren.“
„Du bist doch gar kein Kommunist, Kurt.“
„Ich habe die Vereinigung mit der SPD nicht mit gemacht.“
„Ja. Aber Du bist ja Verfolgter des Naziregimes.“
„Mich graust bei der Vorstellung, die kommen jetzt ungestraft hier her.“
Joana hat Kurt einen Kirschlikör ausgegeben. Kurt trinkt keine harten Schnäpse. Er, mit seiner Bergmannslunge, kommt dabei fürchterlich ins Husten. Kurt hat mir immer seine Monatsration von Bergarbeiterschnaps verkauft. Ich habe den zu Kirschlikör gemacht. Schwarz. Das Zeug hat sich gut verkauft. Mitunter habe ich daraus mit Puddingpulver, Eierlikör hergestellt. Der verkaufte sich zeitweise, extrem gut in Schokobechern. Unsere Frauen waren verrückt nach diesem Gesöff. Viele Kollegen fragten mich neidvoll, woher ich die Schokobecher habe. Das war zeitweise Mangelware wegen der hohen Nachfrage. Jetzt, da Joana da ist, finde ich bisweilen die Zeit, ein paar Dutzend zu gießen.
In den kommenden drei Tagen konnten wir uns auf unseren Einzug konzentrieren. Andrea hat uns mit Jürgen zusammen, die Wohnung geräumt. Neben einem Bett, einem Schrank und dem Fernseher brauchten wir nicht viel für unsere erste gemeinsame Wohnung. Unser Leben spielte sich in den Gasträumen und beim Einkauf ab.
Zwischendurch fanden wir schon die Zeit, an unseren Ruhetagen im Sommer, baden zu gehen. Wie fast alle DDR Bürger, bevorzugten wir FKK. In unserer Nähe gab es reichlich Badeseen und Bäder mit diesem Angebot. Unser neues Auto war dafür das beste Bewegungsmittel.
Im Spätherbst fuhren wir eher in die CSSR, um uns da Dinge zu kaufen, die wir bei uns eher seltener fanden. Ölsardinen und Dorschleber waren bei uns Zweien eine beliebte Schmuggelware. Schon deshalb, weil wir die selbst gern aßen. An Ruhetagen fuhren wir nach Prag, in den Harz oder ins Erzgebirge.
Mit der Grenzöffnung änderte sich das. An den ersten drei bis vier Tagen gab es hundert kilometerlange Staus in Richtung Franken. Wir hatten mit dem Ruhetag nach der Grenzöffnung das Glück, nicht endlos im Stau stehen zu müssen. Es lag eine Woche dazwischen. Im Grunde wollten wir nur etwas Westgeld holen und dabei Land und Leute kennen lernen. An zwei Ruhetagen ist kaum mehr möglich. Bei uns am Stammtisch trafen schon die Ersten ein, die Drüben waren. Die Gesichter zeigten uns keine Begeisterung. Den Erzählungen nach, könnte das eher am Stau und den Warteschlangen vor den Geldausgabestellen gelegen haben. Das erste Mal in meinem Leben, hörte ich, wie DDR Bürger, Ihresgleichen schlecht machten. Ein Tag und die Gesellschaft war gespalten. Das setzte sich am Stammtisch rege fort. Wir wurden neugierig, was es da zu sehen gab, das so viel Streit auslöste.
Am Wochenende gab es wieder eine Trauerfeier. Unser Nachbar wurde beerdigt. Er wurde keine siebzig Jahre. Seine Kinder lebten im Westen. Sie waren zugegen.
„Wieso habt Ihr zwei Ruhetage? Unsere Gastwirte machen einen pro Woche.“
„Wir haben bei uns die Vierzig-Stunden-Woche. Sie nicht?“
Joana und ich waren schockiert von dieser Frechheit. Was glaubt dieser Trottel, wer er ist?
„Sind Gastwirte keine Menschen?“
Fortsetzung folgt
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.